Donnerstag, 28. März 2024

Beim Kaufen der Agnolotti

Ich esse, also bin ich. Was Sie schon immer über Agnolotti und die italienische Glockenturmmentalität erfahren wollten, aber niemals zu fragen wagten

Agnolotti sind eine durchaus problematische Pastasorte. Diese piemontesische Teigware ist zwischen Ravioli und Tortellini anzusiedeln; sie zeichnet sich durch eine quadratische Form mit gezackten Rändern und einer rundlichen Erhöhung im Zentrum aus, in welcher die jeweilige Füllung ruht. Von verschiedenen Fleischsorten und Pilzen bis hin zu Gemüse kennt der Variantenreichtum keine Grenzen. Dabei existiert neben der Version im Montferrat und in der Langhe des südlichen Piemonts auch noch eine im Südwesten der Lombardei, namentlich in Pavia. Der Begriff „Agnolotto“ soll sich entweder vom lateinischen anellus (Ring) oder einem Koch aus dem Montferrat herleiten.

Um die Wissenschaft abzurunden: die Herstellung von Agnolotti gestaltet sich etwas einfacher als die von Tortellini oder Ravioli. So wird bei der Herstellung ein großer Teigstreifen ausgebreitet, dann mit Füllung bestrichen und ein weiterer darüber geklappt. Anschließend schneidet man aus diesem Teig die einzelnen Agnolotti heraus; Tortellini dagegen fertigt man stattdessen Stück für Stück an, eine Arbeit, welche früher eine gute emilianische Hausfrau auszeichnete und von Können, Beharrlichkeit und Fleiß zeugte.

Und während Ravioli durchaus auch mal mit Fasan oder Tomatensauce angerichtet werden, hat der allgemeine Agnolotto nur das Anrecht auf Butter und Käse, oder schwimmt in einer Suppe; letzteres war noch lange Zeit ein typisches Bauernessen großer Teile Norditaliens. Allgemein wurde dieses Essen als „Pasta in brodo“ bezeichnet, wobei die jeweilige Pasta der regionalen Gepflogenheit entsprach. Jede Region hat bis heute seine Pastasorte, und insbesondere die Älteren würden als Piemontesen keine emilainischen Tortellini, sondern höchstens Agnolotti in der Suppe annehmen.

Wieder einmal ist also das Essen Ausdruck der eigenen Identität. Und im Geburtsland des Campanilismo – jener „Glockenturmmentalität“, die nur bis zu den Grenzen des eigenen Dorfes schaut – gilt diese Unterstreichung umso deutlicher.

Die Einigung Italiens hatte jedoch wenigstens auf dem Schlachtfeld der Küche eine sehr positive Wirkung, da nunmehr eine große Anzahl von Sorten für den ganzen Stiefel verfügbar wurde. Dabei kam es auch zu Vermengungen: traditionell richteten die Norditaliener ihre Pasta nur mit Öl bzw. Butter und Käse an, durch den süditalienischen Einschlag gesellten sich aber auch die scharfen Soßen hinzu.* Wer sich einmal die alten „Don Camillo und Peppone“-Filme anschaut, wird eine Szene des emilianischen Peppone sehen, der im Zusammensein mit seinen Kindern sich Spaghetti in den Mund schaufelt, und diese mit mehr und mehr Käse überträufelt. Tomaten? Fehlanzeige. Auch Pesto blieb lange Zeit nur eine Sache der ligurischen Städte und Dörfer (abgesehen von einigen etwas verschiedenen sizilianischen Varianten).

Während aber die Nationalstaaten stets versuchten, durch Gleichmacherei die regionalen Unterschiede zu tilgen, hat die Küche ihre regionalen Eigenarten bis heute bewahrt und sogar neue Experimente beflügelt. In diesem Sinne bin ich auch kein Norditaliener, sondern „Italianer“; ohne Ressentiments kaufe ich emilianische Tortellini, toskanische Pappardelle und süditalienische Maccheroni. In unserer Gegend existiert meines Wissens nach keine eigene Variante, die als brescianisch geltenden Pastastücke der Casoncelli sind eher Richtung Bergamo verbreitet; überhaupt fällt auf, dass unsere Piatti (= „Teller“) eher fleischhaltig sind, was auf den langen Einfluss Veronas in unserem Gebiet hindeutet. Als Pasta gab’s bei uns dazumal standardmäßig „Tortellini in brodo“ (klassisch mit Parmesan obendrauf, was ich schon damals ausgesprochen unüberzeugend empfand) oder Penne. Penne sind für mich bis heute – noch mehr als Spaghetti – die „Standardpasta“ schlechthin geblieben.

Bei uns gab es dafür Pferd auf dem Tisch. Keine Pferdeköpfe, um Gerüchten an dieser Stelle zuvorzukommen. Auch da: veronesischer Einfluss. Oh, wie schön solche Gruselgeschichten später in der deutschen Grundschule bei den Mädchen ankamen… hehe.
Wenn die gewusst hätten, dass der traditionelle „Piatto“ Brescias aus Fleischspießen und kleinen Vogelköpfen mit Polenta bestand, hätte das wohl noch zu mehr Entsetzen geführt.

Entsinnen möchte man sich bei diesen kulinarischen Gegebenheiten auch der Tradition und Kontinuität, welche die italienische Küche mit den Jahrhunderten der Vergangenheit verbindet; das Wort Maccheroni stammt aus dem Griechischen Makaron, ähnlich der Lasagne, und lässt auf die einstige griechische Kolonisation Unteritaliens in der Antike schließen – wir gehen also hier mindestens bis ins alte Rom zurück! Ähnlich beim genuesischen Pesto, das wohl eine abgewandelte Form des alten römischen Garum ist, einer Paste, welche die Römer in Mengen ihren alten Gerichten hinzufügten.

Auf meine Vaterstadt zurückkommend kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Langobarden und Goten womöglich an der merkwürdigen Mischung aus gegrillten Singvögeln und Pferdefleisch nicht völlig unschuldig waren…

Zurück zum eigentlichen Thema, nämlich den Agnolotti. Zuletzt suchte ich das Geschäft meines Vertrauens auf, genauer: Fabrik. Bei mir kommt frische Pasta direkt vom Erzeuger auf den Tisch, ohne Umwege. Der Hersteller hat dabei nicht nur eine sehr große Auswahl, sondern fertigt seine Produkte traditionell mit Bronzepresse an. Nicht handgemacht, aber für einen kleinen Produzenten durchaus ein bewährtes Verfahren. Der Vater des Besitzers hat die Pasta übrigens noch für die eigene Familie per Hand hergestellt.

Und jeder, der mal bei mir zum Essen eingeladen war, wird keine andere Pasta mehr essen wollen.

Normalerweise bedient mich dabei eine Dame mittleren Alters, wenn ich dort ankomme und klingele. Dieses Mal jedoch ein Kerl in meinem Alter.
Dieselben Augen.
Dieselbe Frisur.
Derselbe Bart.

Einzig die Nase weicht physiognomisch ab und geht eher in die toskanisch-semitische Richtung im Gegensatz zu meinem gallisch-cisalpinischen Gesichtserker-Modell.

Man beäugt sich. Nickt sich zu. Denkt sich wohl seinen Teil. Bleibt aber dennoch professionell.

Ich bestelle das Übliche: zwei Packungen Tortellini zu je 500 Gramm. Eine Packung Pappardelle, ebenfalls 500 Gramm. Und Maccheroni. 500 Gramm. Gut gelaunt notiert die Bedienung, und macht sich in den hinteren Bereich auf.

In der Abwesenheit fällt mir das Angebot für den September und Oktober auf. Agnolotti mit Kürbisfüllung (zucca). Eigentlich sind Tortelli di zucca (nicht Agnolotti! So viel Zeit muss sein) die Spezialität Mantuas. Und aus Veroneser Zeiten habe ich nicht das Ritual vergessen, mir sonntags aus Mantua handgemachte Pasta aus der traditionellen, kleinen Pasticceria zu holen.

Mit Butter. Salbei. Und einem Schuss Muskat. Abgerundet mit der Prise Parmesan.

Ferne Zeiten. Und es ist wirklich ein Elend, gute Tortellini zu bekommen; mit Kürbisfüllung noch ein größeres Problem. Dazu habe ich gewisse Zweifel, denn Tortellini sind nun einmal etwas kleiner und besser passend gemacht, als die vergleichsweise großen Agnolotti. Die Kunst bei den Agnolotti besteht daraus, dass der Teig ausreichend gut gekocht werden muss, sodass die Ränder nicht hart sind; andererseits darf die Pasta nie zu durchgekocht sein, weil dann der Kürbis seinen Geschmack einbüßt.

Da geht die Tür auf. Mein Ebenbild mit dem etwas schmaleren Gesicht und längerer Nase kommt zurück, und hat die Bestellung dabei. Jetzt muss ich bedauern: ich hätte noch gerne zwei Packungen von den Agnolotti di zucca. Man lächelt.
Vielleicht, weil die Mehrzahl der Kundschaft „Agnolotti“ (Anjolotti) nicht einmal richtig aussprechen kann.

Spätestens ab diesem Punkt erscheint die wichtigste Frage – neben der korrekten Zubereitung und deren Herausforderung – in meinem Kopf: ist der Kerl Lombarde? Und wenn ja, hoffentlich nicht aus Mailand. Nein, dafür wirkt er zu „provinziell“ (was in meinen Worten ein Kompliment ist, im Gegensatz zur allgemeine pejorativen Verwendung dieses Wortes).

Und zwangsläufig merken wir natürlich beide, dass jeder sich die Frage stellt, man es aber aus Höflichkeit vermutlich nicht wagt. Es kommen ja doch viele Leute vorbei. Aber, da ist diese Spannung in der Luft.

Die Agnolotti sind da. Ich bezahle. Man ist freundlich zueinander. Das Thema wird immer noch ausgeklammert, obwohl es sichtlich uns beiden unter den Nägeln brennt. Dennoch, ich wende mich um, und aktiviere dann völlig überraschend den Geheimcode.

»Arrivederci.«

Rumms. Der Damm bricht. Noch auf der Treppe hält er ein, dreht sich von oben herum, und meint »Sapevo che’ri Italiano!« (»Ich wusste, dass du Italiener bist!«)

Ich bleibe in meiner Vatersprache: »Natürlich bin ich Italiener, und natürlich wusste ich, dass du einer bist. Schau dir mein Gesicht, schau dir deines an!«

»Woher kommst du?«

»Brescia!«

»Catania!«

Und schon redet man natürlich nur in Italienisch, fuchtelt mit den Händen rum, tauscht sich über Belanglosigkeiten aus, die für unsere Nation die Frage auf Leben und Tod darstellen (»Ballotelli oder Pirlo?«) und fühlt sich sofort zusammengehörig.
Ganz plötzlich.

Aber Herkunft hat ja – wie mich die Medien tagtäglich belehren – so gar keine Bedeutung…

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*Zudem ein verstärkter Gebrauch von Olivenöl, der bis dahin nur in einigen exklusiven Gebieten verbreitet war (so am Gardasee).

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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