Donnerstag, 28. März 2024

Autostimulation statt Erotik

Wer sich ein Piercing machen, ein Tattoo stechen lässt oder eine Intimrasur vornimmt, lenkt seine Aufmerksamkeit genau auf die Körperstelle, wo ein solcher „Eingriff“ vorgenommen wird. Das könnte unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet und als „Schönheit“, vielleicht auch provokative Antiästhetik oder Infragestellung ästhetischer Normen diskutiert werden. Auf der rein oberflächlichen Ebene scheint eine solche Erklärung von „Körpergestaltung“ oder Bodymodification überzeugend zu sein. Erklärend ist eine solche Beschreibung indes keineswegs. Dies zeigt sich oft schon darin, dass Menschen, mit denen man über ihre Tattoos, Piercings oder Intimrasur reden will, sich in den meisten Fällen lediglich auf die Ebene des Äußeren einlassen. Inwieweit diese „Eingriffe“ auch Hinweis oder Ausdruck einer inneren Befindlichkeit sind, würde, so drängt es sich zumindest oft auf, das konstruierte Selbstbild infrage stellen.

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Foto: Steve C / flickr.com Lizenz: CC BY 2.0

von Thomas Holtbernd

Kleidungsstücke können aus- oder angezogen werden. Und wenn eine Frau als besonderen Reiz unter ihrem Rock kein Höschen trägt, so kann sie das stimulieren, weil es ihr Geheimnis ist, mit dem sie spielt. Sie kann jedoch den Slip auch wieder anziehen, wenn es ihr beliebt. Ein Mann kann eine sehr enge Hose tragen, bei der sich seine Genitalien abmalen. Ob er sich nicht vielleicht doch etwas in die Hose gestopft hat, wodurch das Verdeckte mächtiger erscheint, lässt sich nicht wirklich erkennen. In beiden Fällen ist es ein Spiel mit körperlichen Attributen. Der Körper wird in seiner Subjekthaftigkeit gespürt, weil gerade dies durch die Kleidung als Kontrapunkt konstruiert wird. Das Changieren von Subjekt (Körper) und Objekt (Kleidung) entlarvt die mögliche Fixierung auf eine Objekthaftigkeit, denn sobald das Subjekt Körper unter oder hinter der Kleidung nicht mehr wahrnehmbar ist, wirkt der bekleidete Mensch maschinenhaft. Dies hat Henri Bergson als das Komische beschrieben, was uns lachen lässt.

Distanz zum Körper durch Piercing oder Tätowierung

Es mag zunächst widersprüchlich klingen, wenn Bodymodification oder bleibende Veränderungen des Körpers als Distanz zum Körper benannt werden. Eigentlich, so könnte man meinen, ist ein solcher Eingriff deutlich zu spüren und das Ich verbindet sich enger mit seinem Körper. Dem Eingriff geht jedoch die klare Objektivierung des Körpers voraus. Ähnlich einem chirurgischen Eingriff muss ein Plan erstellt werden, möglicherweise ist sogar eine örtliche Betäubung vonnöten. Es werden Messer bzw. ein Rasierer benutzt, um z. B. die Schambehaarung zu entfernen. Es könnte eingewendet werden, dass eine Bartrasur nichts anderes sei. Ein Mann, der sich täglich rasiert, dürfte dieses Tun allerdings kaum mit sexuellen Assoziationen versehen. Die Intimrasur ist dies jedoch zwangsläufig durch die Nähe zu den Geschlechtsorganen. Beim Tätowieren oder Piercing wird der Körper noch eindeutiger zum Objekt der „Verschönerung“ gemacht. Ein Bild oder Motiv muss ausgesucht, der Ort des Eingriffs muss bestimmt werden und in den meisten Fällen wird die „Verschönerung“ von einem Fremden vorgenommen. Damit tritt zwischen Ich und eigenem Körper ein Dritter, der die enge Verbindung zumindest zeitweise aufhebt. Im Gegensatz zum Frisör, zur Maniküre oder Pediküre werden nicht „tote“ Teile des Körpers bearbeitet, sondern lebendige. Dies ist mit Schmerzen verbunden.

Der Beobachter des Körpers

Ein Tattoo, ein Piercing werden betrachtet. Wenn es einmal gesetzt ist, wird es nicht mehr gespürt werden. Den Reiz hat diese bleibende Veränderung nur durch das Betrachten. Das eigene Spüren des Körpers tritt in den Hintergrund. Und der „Schönheitseingriff“ muss irgendwem und irgendwie gezeigt werden. Dies geschieht dann oft so wie Menschen auf ihrem Smartphone anderen ein Bild zeigen. Es kann auch sein, dass der Reiz gerade darin besteht, die „Schönheit“ nicht zu zeigen, sondern als Geheimnis zu bewahren und nur dem zur Beobachtung zu präsentieren, der es „wert“ ist, diese Intimität zu sehen. In jedem Fall ist der Körper in Distanz gebracht und eine mögliche Stimulation erfolgt über das Sehen und nicht über das Spüren. Auch bei einer Intimrasur ist das Empfinden äußerlich, es wird gesehen oder durch Berühren haptisch erfahren. Die innere Erfahrung wird quasi ausgeschlossen. Ist bei einer Intimrasur die Assoziation mit dem kindlichen Körper und der kindlichen Unschuld verbunden, die den geschlechtsreifen Körper noch nicht erkannt hat, so wird gerade dann, wenn ein Erwachsener so kindlich erscheint, eine Objektivierung des Körpers notwendig, so ist es beim Tätowieren die Verdeckung des Nacktseins. Das Piercing lenkt dagegen vom nackten Körper ab, indem der Blick auf den Stecker, den Ring o. ä. gelenkt wird.

Der Zwang zum Weitermachen

Da die Stimulation durch Piercing, Tätowierung oder bedingt auch Intimrasur kein Erlernen einer inneren Stimulation ist, die durch Fantasie grenzenlos sein kann, muss der Eingriff weitergehen. Die Stimulation geschieht durch das nächste Tattoo oder das noch schmerzhaftere oder „tabubesetztere“ Piercing. Die an eine solche Körperlichkeit gebundene Sexualität wird immer mehr zu einer Ipsation. Die Selbstverliebtheit in den eigenen Körper steigt und Sexualität wird zur Selbstbefriedigung, die durch die „bewundernde“ Betrachtung eines Anderen aufrechterhalten wird. Es entstehen pornografische Dimensionen der Sexualität. „Feuchtgebiete“ oder „Fifty shades of grey“ werden zu Vorlagen für die eigenen Sexpraktiken, bei denen man sich beobachtet wie in einem Drehbuch. Auch hier muss es härter oder weiter gehen. Das Ziel wird bestimmt durch das Erreichen dessen, was in solchen Büchern oder Filmen vorgelegt wird.

Lust ist selbstgemacht

Eine Erotik, die jenseits einer solchen Beobachtungskultur steht, ist davon geprägt, dass die Stimulation gegenstandslos und du-bezogen ist. Erotik, die fern pornografischer Unmittelbarkeit ist, bezieht sich nicht auf das konkret Körperliche. Das Konkrete, das stimulierend wirkt, ist ein Produkt der eigenen stimulierenden Fantasie. Indem der eine Sexualpartner sich erregt durch eingebildete – und eben nicht sichtbare und konkrete – Attribute des anderen, stimuliert er den Anderen. Dieser wiederum lässt sich „manipulieren“ und reagiert mit dem Überschreiten eigener Begrenzungen oder Schamhaftigkeiten. So ergibt sich eine Spirale gegenseitiger Luststeigerung. Die durch Tattoos, Piercing oder Intimrasur scheinbar gesteigerte Lust ist lediglich eine beobachtbare Reizung, die nicht notwendigerweise auch das innere Spüren eines Angetanseins des körperlichen und sexuellen Daseins des Anderen ist. Es ist letztlich die Abblockung der fantasievollen Kraft des Gegenübers, die das Gewöhnliche oder zur Gewohnheit Gewordene überwinden möchte. Und möglicherweise ist daher eine „richtig“ gelebte Sexualität die Voraussetzung für eine „gute“ Liebe. Die Schwierigkeit vieler Menschen, einen Partner oder Partnerin zu finden, wäre folglich nicht die Liebesunfähigkeit, sondern die Unfähigkeit, Sexualität gelungen zu leben.

Dieser Artikel erschien auf hinsehen.net und darf mit freundlicher Genehmigung des Autors hier veröffentlicht werden.

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