Donnerstag, 28. März 2024

Beim Schneiden der Tomaten

Warum Küche, Kunst und Kultur als Teil unserer Identität zusammenhängen

Tomatenschneiden gilt mit Sicherheit nicht als eine der unterhaltsamsten Beschäftigungen. Aber muss alles, was gut und schön ist, zugleich unterhaltsam sein? Ist Caravaggios Ungläubiger Thomas unterhaltsam? Beethovens 7. Sinfonie ist es mit Sicherheit. Aber Michelangelos Pietà?

Irgendwie erscheint heute alles, was keinen „Spaß“ macht, grundsätzlich weniger wertvoll. Ich habe mir sagen lassen, dass mittlerweile Tomatenschneidemaschinen existieren oder andere, die Arbeit erheblich verkürzende Mittel. Und mit Recht wird man die Frage stellen, weshalb ich eine solch redundante Zweckarbeit wie das Tomatenschneiden auf eine Stelle mit Meisterwerken der europäischen Zivilisation stelle.Die Frage kann nur jemand stellen, der entweder nicht aus dem romanischen Kulturkreis stammt, oder – noch schlimmer – aus dem romanischen Kulturkreis stammt und keinerlei Bezug zu seinen Wurzeln hat. Vielleicht kann sie auch bei einem Nicht-Romanen vorkommen, der überdies seine Wurzeln verloren hat.

Die Antwort ist simpel: Kochen ist eine Kunst und so ein immanenter Teil jeder Kultur, sodass Tomatenschneiden dieselbe Bedeutung besitzt, wie für einen Maler das Mischen seiner Farben, bevor er den Pinsel auf der Leinwand ansetzt.

Unsere traditionelle Kochkultur ist ein offensichtliches Bindeglied zur Geschichte unserer Vorfahren und mit deren Leben. Wir stehen damit in Kontinuität zu unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, wenn wir ihr Erbe forttragen – und mag es nur ein Rezept sein, das sich in Familienbesitz befindet. Auf der nächsten Ebene folgt die Kultur, ob nun regional oder national; und wer einen Sinn hat für das eigene Sein, das auf dieser Ebene besteht, der kocht prinzipiell anders als die Veggie-Lifestyle-Fraktion.

Ich koche, was mir schmeckt und was ich immer gerne gegessen habe. Das heißt nicht, dass ich nicht auch neue Dinge erlerne; aber traditionelles Essen, das aufs tiefste mit der Geschichte meiner Familie, meiner Vorfahren, meiner Kultur und – darf man das noch sagen? – meines Volkes verbunden ist, hat einen Hauch jenes Großen und Ganzen, des fast Mythisch-Verborgenen, das eine ganz eigene Kraft besitzt.

Kochen ist damit ein Teil von Identität und Kultur. Es traditionell zuzubereiten, ist zeitintensiv. Eine gute Tomatensauce braucht ihre Zeit. Etwa eine Stunde. Tomatenstücke und Knoblauch bilden eine Komposition im Meer hellgrünen Olivenöls, vermischt sich dort mit den Aromen von Salz und Zucker, in denen winzige Peperonikörner schwimmen – gekrönt von einem Blätterstrauch Basilikum. Der gesammelte Duft dieses Kochgemäldes ist sicherlich nicht mit einem Caravaggio vergleichbar, sticht aber in dieselbe Richtung.

Die Tomatensauce selbst zu kochen wohnt eine Innigkeit bei, die der einfache Kauf im Supermarkt niemals wettmachen kann. Das eine, das ist Tradition, das ist Meditation, das ist Liebe; das andere ist effizient. Aber befriedigend?

In solchen Situationen tritt meine italienische Seite weit stärker hervor als meine deutsche. Und ich merke dann, wieso sie dominiert: Kochen ist Teil der Identität. Was ich koche, was ich esse, das bin ich selbst. Kochen ist ein kreativer, ein schöpferischer Vorgang; und für mich ist der Mensch erst dann völlig Mensch, wenn er kreativ ist. Der Übergang von Jägern und Sammlern zum „Kultur“-Menschen geschah mit dem Ackerbau. Landwirtschaft ist einer der ersten schöpferischen Vorgänge, in denen der Mensch Land formte, bestellte, schaffte. Er ist ebenso kreativ wie die Formung einer Vase aus Ton.

Das scheinen hochtrabende Worte für einen solch monotonen Vorgang. Aber man lernt ihn zu schätzen in dieser schnellen, effizienten, ruhelosen Zeit. Während Unmengen von Leuten unten auf der Straße vorbeiziehen, verkommt der Schnitt jeder roten Frucht zu einer Konterrevolution, zu einem Vorgang der Langsamkeit und Kontinuität, ewig und stet wie das Ticken einer alten Taschenuhr aus dem 19. Jahrhundert. Da unten das 21. Jahrhundert in all seinem bresmlichterverblassenden Unruhegeist; hier oben, in der Küche, nur das Ratschen, Schneiden, Klacken. Wiederholt aufs Neue.

Und in dieser ruhenden Stille der Ewigkeit wird dieser einfache Vorgang, den vor mir Abermillionen von Männern, Frauen und Kindern wiederholten, seitdem auf der Apenninhalbinsel die ersten Tomaten aus der neuen Welt strandeten, zum Ritual der Tradition und Kontinuität von Generationen. Der spritzende Saft wird zum Erfolgserlebnis, bereichert durch den Duft, der das Zimmer einhüllt. Es sind solche Rituale, die den Geist befreien, und uns für eine halbe Stunde vom Weltgeschehen entfremden. Momente, die der postmoderne Mensch vergessen hat.

All diese Gedanken kamen mir bei dieser Tätigkeit, die auf den ersten Blick so nichtig erscheint, länger betrachtet aber zum Leben schlechthin wird. Mir stellte sich dabei die Frage nach der Kraft dieses Gefühls der Italianità – und mir scheint es kein falscher Gedanke, dass der italienische Nationalstolz (ob nun städtisch, regional oder national) auch darin begründet liegt, dass dieser Teil der kulturellen Identität weitaus wacher ist als in Deutschland.

Wie viele junge Frauen kenne ich, die kochen können? Im ersten Moment – nicht einmal so viele, dass ich sie an der Hand abzählen müsste. Und noch mehr: wie viele können „deutsch“ kochen? Ist die deutsche Küche nicht vielleicht schon ausgestorben: im Wust vom Döner zwischendurch, dem Fertiggericht abends, oder auch der stylischen Salatdiät aus irgendeinem Magazin, das Modernität, Schlankheit und Weltoffenheit verspricht?

Wer soll diese Kultur weitertragen? Und stirbt nicht ein Teil der Kultur – und damit wieder: des „Seins“ an sich – wenn dieser Teil des Kulturgedächtnisses ausstirbt? Ist es vielleicht schon tot, weil nur noch Großmütter diese Kunst kennen, die unser aller Leben bereichert?

Und spricht es nicht Bände, dass die Deutschen nach den Amerikanern selbst am ehesten amerikanisiert sind? Pardon! Stattdessen halten Begriffe wie kosmopolitisch, weltoffen, tolerant oder sonstige bunte Vokabeln her, um den eigenen Kulturverlust und Kulturimperialismus zu kaschieren….

Das heißt nicht, dass man nicht auch mal zum Chinesen essen gehen kann. Aber eben nicht unter Selbstaufgabe seines eigenen kulturellen Bewusstseins.

Womöglich können solche Gedanken nur einem „Kulturchauvinisten“ wie mir einfallen, der im Zubereiten des eigenen Mahls einen Funken des kreativen Göttlichen erkennt, der uns Menschen zu Menschen macht. Tiere oder Pflanzen kochen nicht (in einer diabolischen Wende könnte man sagen: deshalb kochen wir sie ja). Und wenn ich die Kunstküche der Veganer sehe, an der alles natürlich, und in letzter Instanz doch alles nur artifiziell ist,* so frage ich mich noch mehr, ob das Vergessen unserer Kochkunst nicht auch eine Selbstaufgabe von Kultur ist – und womöglich mit einem kulturellen Selbsthass einhergeht.

Wenn die italienische Kultur überlebt, dann mit Sicherheit ihrer Küche wegen. Denk ich dagegen an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht…

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*Die Veganische Küche lässt sich am besten mit einem Weihnachtsbaum aus Plastik bezeichnen. Sieht natürlich aus, ist aber das komplette Gegenteil.

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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