Freitag, 29. März 2024

Buchvorschau: „Welt auf der Kippe“

Mit freundlicher Genehmigung des Autors Jakob John Seewald, mit dem The Cathwalk ein Interview führte, welches Morgen (10. Dezember) hier veröffentlicht wird, dürfen wir eine Buchvorschau von „Welt auf der Kippe“ publizieren. Dieses Buch legt den Finger in viele offene Wunden der aktuellen globalen Entwicklung der Menschheit und zeigt vielfältige Probleme, Missstände und Fehlentwicklungen in zahlreichen Bereichen auf. Im hier veröffentlichen Prolog werden die umfassenden Probleme und Herausforderungen, der sich jeder einzelne Bürger, aber auch die gesamte Weltbevölkerung in einer globalisierten Welt ausgesetzt sieht kurz umrissen und skizziert.

PROLOG

»Ändere die Welt, sie braucht es. Ändere sie auch, wenn alle dich drängen zu glauben, dies sei unmöglich.«

Bertolt Brecht

Mobile Telefone lassen uns heute an jedem Ort Nachrichten empfangen. Dass sie eine höhere Rechnerleistung haben als die Computer der NASA bei der Mondlandung, nehmen wir als selbstverständlich hin. Intelligente Technik navigiert uns im Auto bequem durch die Stadt und macht im Keller die Heizung an. Ganze Branchen erfinden sich neu und bieten Dienstleistungen an, die früher Kaiser und Königen vorbehalten waren.

Und das ist erst der Anfang. Mit Google und Facebook, Apple und Amazon sind Mächte von unvorstellbarer Größe entstanden. Sie werden mit riesigen Clouds und dem Internet der Dinge dem Karussell noch einmal richtig Schwung geben. Ingenieure für künstliche Intelligenz treiben die Verschmelzung von Mensch und Maschine voran. Genome Engineering soll nicht nur Gene manipulieren, sondern in die Keimbahn des Lebens eingreifen, die seit Beginn der Menschheitsgeschichte niemals verändert wurde.

Vieles ist nicht nur einfacher, sondern auch besser geworden. Wir können nahezu unbeschränkt reisen. Medizinischer Fortschritt schenkt uns ein längeres Leben. Wir sind wacher geworden gegenüber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Gleichzeitig aber sehen wir, dass viele Dinge eine Qualität bekommen, die uns Sorgen bereiten muss. Sie lassen uns die Zukunft weniger in ihren positiven Möglichkeiten sehen, sondern als Raum drohender Katastrophen.

Schon heute erreichen uns jeden Tag Fluten beunruhigender Nachrichten. Sie jagen einander in einer Geschwindigkeit, dass wir morgen nicht mehr wissen, was uns gestern noch schockiert hat. Ein Turbokapitalismus macht aus der Welt ein Spielkasino und verzockt riesige Vermögen. Es gibt neue Gefahren für unsere Sicherheit, für das friedliche Miteinander der Kulturen und Nationen. Unzählige Terrorakte vertreiben Millionen von Menschen aus ihrer Heimat. Alleine von Januar bis August 2015 kamen 300 000 Menschen über das Mittelmeer, 2500 kamen dabei ums Leben. »Es ist wie ein dritter Weltkrieg«, klagt Papst Franziskus, »der Stück für Stück ausgetragen wird.« Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, fügt hinzu: »Der Krieg ist überall. Die Welt ist in einem fürchterlichen Zustand. Für viele Menschen fällt diese Welt auseinander.«

Geologen haben unserer Epoche einen Namen gegeben: Anthropozän – altgriechisch für »Das menschlich (gemachte) Neue«, das »Menschenzeitalter«. Kein schmeichelhafter Titel, insofern damit gemeint ist, dass kein Fleck der Erde inzwischen vom Fallout menschlicher – das heißt zumeist zerstörerischer – Aktivität unberührt ist. Die Emissionen von Treibhausgasen sind auf einen neuen Höchststand angestiegen. Weltweit werden Temperaturrekorde gemessen. Die Ozeane sind so warm wie nie. Der Meeresspiegel steigt unaufhörlich. Umweltdesaster und Artenschwund, der Raubbau der Ressourcen, die Verschmutzung der Atmosphäre und die Versäuerung der Böden haben Teile des Planeten an den Rand des Abgrunds gebracht.

Stoßen nicht auch unsere persönlichen Ressourcen an die Grenzen der Belastbarkeit? Dauerconnected sollen wir jederzeit erreichbar sein. Tausende Verführungen locken uns in Dinge, die wir im Zweifelsfall gar nicht tun wollen. Schon ein einziger Tag genügt, um verrückt zu werden: E-Mails checken, Facebook-Freunde »besuchen«, Sitzungen vorbereiten, Stromanbieter wechseln. Der Datenhunger der Konzerne und modernes Marketing haben aus uns Wesen gemacht, die in der Ich-AG die eigene Haut zu Markte tragen. Ist es Zufall, dass Krankheiten wie Burn- out und Herz-Kreislauf-Schäden zu Massenphänomenen werden? Teenager leiden unter Depression, Angstzuständen und Blockaden. Dreißigjährige fühlen sich überfordert und erschöpft – während gleichzeitig die Lasten, die auf sie zukommen, immer größer werden.

Da ist dieser Müll an Unkultur und Dummheit, unter dem man leiden kann. Der Terror der irren Trends aus der Medien- und Entertainment-Industrie. In der neuen Hierarchie der Werte ist der Ehrliche der Dumme, der Betrüger der Hero und der Skandalist das Vorbild. Und haben nicht auch George Orwell und Aldous Huxley mit ihren Prophetien in „1984“ und „Schöne neue Welt“ recht behalten? Sind wir gar dabei, ihre Visionen über den überwachten, gegängelten, ausgebeuteten und manipulierten Menschen, dem vorgegeben wird, was er zu denken, zu sagen und wie er sich zu verhalten hat, noch zu toppen?

Als wir vor vielen Jahren damit anfingen, für einen Beitrag für das Magazin der Süddeutschen Zeitung Begebenheiten und Nachrichten aus unserem »ganz normalen Wahnsinn« zu sammeln, hatte das noch eine gewisse Komik. Es ging um die Verspätungen der Bundesbahn, Geiz-ist-geil-Kampagnen und Nervenkrisen, die durch Behördenirrsinn ausgelöst werden. Verrückte Welt! Eine Zeit lang ist das ganz lustig. Aber verrückt heißt auch: dass die Dinge nicht mehr an ihrem Platz sind. Dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist.

Wir hatten den Eindruck: Die Systeme sind überreizt. Es wird künftig immer weniger funktionieren. Angst, Verunsicherung und Konfusion nehmen zu. Wir sind immer weniger fähig, Orientierung zu finden. Immer mehr Menschen denken, das Leben ziehe an ihnen vorbei, weil sie das Gefühl haben, nur noch Getriebene zu sein. Die Frage war: Wie vernünftig ist unsere Welt geworden? Wie gerecht ist sie? Wie sozial und kinderfreundlich, wenn wir von einer demografischen Katastrophe sprechen müssen, die das soziale Gefüge grundlegend verändern wird? Wie glücklich und zufrieden macht sie uns, wenn immer mehr Menschen krank werden, süchtig, in Einsamkeit und Depression verfallen? Wie klug, wie gebildet, wie zivilisiert ist sie, sodass sie der Hochkultur früherer Epochen etwas hinzufügen könnte?

Arm und Reich driften immer weiter auseinander. Ein Prozent der Menschen besitzt 99 Prozent des gesamten Vermögens auf diesem Planeten. Immer mehr Bereiche des Lebens werden rein ökonomischen Gesichtspunkten untergeordnet. »Unsere Gesellschaft misst Menschen immer stärker daran«, so der britische Glücksforscher Lord Layard, »wie sie im Wettbewerb mit anderen abschneiden. Und nicht mehr daran, ob es anständige Leute sind.« Nicht mal mehr Leistung, nur noch der Erfolg zähle.

Obendrein: Können wir weiterhin noch von einer »freien Welt« reden, derer sich der Westen rühmt, wenn Freiheit und Selbstbestimmung zunehmend eingeschränkt werden? Nicht nur durch Überwachung, sondern vor allem durch Zeitnot, Arbeitshetze und allumfassende Werbemanipulation? Und das Merkwürdigste daran: Wir haben uns an all den Wahnsinn gewöhnt. Wir sind unter die Räuber gefallen und zucken bestenfalls mit den Schultern.

Die Welt ist nicht nur Problem. Sie ist, trotz allem, noch immer der schönste und bezauberndste Planet, der in den Weiten des Universums zu finden ist. Aber muss man nicht längst auch von einer globalen zivilisatorischen Katastrophe sprechen? Wie geht es weiter? Wird René Girard, französischer Philosoph und Mitglied der Académie française, recht behalten, der als das Kennzeichen zivilisatorisch-technischer Entwicklungen jeweils die »Steigerung bis zum Äußersten« sieht? Mit anderen Worten: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Wo gehen wir hin? Und wollen wir da, wo es jetzt hingeht, auch wirklich landen?

Fest steht: Ein Zurück wird es so wenig geben wie eine Umkehr großen Stils. Der Traum von einer heilen Welt oder von einem »neuen Menschen« war schon immer eine jener gefährlichen Illusionen, die stets mit einer Katastrophe endeten. Die Krise ist Bestandteil von Entwicklung. Krise war immer. Und Krise ist immer. Aber fast scheint, als ob es eine Codierung gäbe, eine Reißleine, die uns exakt an diesem Punkt der Entwicklung an elementare Dinge erinnert, die wir im Trubel unseres Lifestyles vergessen haben. An Fragen wie: Was ist der Mensch? Wie müssen wir uns zu dieser Welt verhalten? Wie zu uns selbst? So gesehen rückt mit der Entwicklung der Technik und dem Siegeszug von Computern das eigentlich Menschliche wieder ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Etwas, das man so wenig erschaffen oder berechnen kann wie Glück. Wie Liebe. Nämlich unser eigentliches Wesen, das sich nicht künstlich herstellen lässt. Kein Roboter, und sei er noch so rechenstark, kann träumen, nachdenken, fühlen oder gar lieben. Keine Maschine verfügt über ein Sein, verfügt über eine Seele, verfügt über das, was wir den göttlichen Funken nennen.

Dieses Buch will den vielen erschienenen Essays zu den Bedrohungen unserer Zeit weder einen neuen Alarmismus hinzufügen, noch ist es unsere Absicht, Ängste zu schüren. Hier geht es um Fakten. Wie ist es wirklich? Ein Querschnitt von Meldungen, Zahlen und Entwicklungen soll zeigen, wie und wo es brennt. Es ist das, was im dröhnenden Overkill der Nachrichten täglich an unseren Augen und Ohren vorbeirauscht. Aber erst dadurch, dass man die unzähligen Splitter an News, die uns täglich bombardieren, zu einem Bild zusammensetzt, zeigt sich das in der Tat schockierende Ausmaß der Gefährdungen. Erst wenn wir die Dinge benennen, ihnen einen Ausdruck geben, können sie aus dem Unbemerkten herausgezerrt, als Problem erkannt und verändert werden. Die Welt steht auf der Kippe. Wir bezahlen schon heute mit riesigem materiellen und immateriellen Aufwand für die Fehler der Vergangenheit. Was werden die nachfolgenden Generationen in 20, 30 Jahren bezahlen?

Alles ist möglich. Im Schlechten. Aber auch im Guten. Es geht dabei um mehr als um Ökokatastrophen. Klar, der Feinstaub in den Städten kann bedrohlich sein. Gift in Lebensmitteln ist keine Bagatelle. Aber die eigentliche Gefährdung sind geistige und moralische Fehlentwicklungen. Sie beuten unsere Emotionen aus. Sie zerstören Strukturen, Ordnungsschemen, die als Wegmarkierung dienten. Sie machen unser Hirn zu einem Stopfhirn, das wie die Leber bei den Gänsen zwangsgefüttert wird, ohne dass wir uns wehren könnten.

Erstaunlich: Wenn es um die Zerstörung von Baudenkmälern geht, hallt ein Aufschrei um die Welt. Unwiederbringliches sei vernichtet worden. Wieso schweigen wir, wenn es um das geistig-geistliche Erbe der Menschheit geht, das doch so viel bedeutsamer ist? Warum nehmen wir im Gegensatz zu den Grenzen des ökonomischen Wachstums die Grenzen der menschlichen Belastung nicht stärker wahr? Warum dulden wir die Relativierung der Familie, als wäre sie nicht der Grundbaustein jeglicher Gesellschaft? Warum betrachten wir öffentliche Verdummung nicht als ähnlich gefährdend wie CO2-Emissionen? Warum prangern wir die Verunreinigung der Flüsse an, aber nicht die Verunreinigung an den Seelen unserer Kinder? Bräuchten wir nicht auch eine Klimakonferenz für unsere Sinne? Ist die Rettung der geistigen Ozonschicht und unserer spirituellen Regenwälder nicht gar die Voraussetzung gegen die ökologische Dürre, die das Leben auf Erden schon in wenigen Jahrzehnten vertrocknen lassen könnte? Hier steht das große Wort von Benedikt XVI.: »Wenn der Mensch verfällt«, warnte der Papst aus Deutschland, »verfällt auch die Umwelt, in der er lebt.«

Dieser Planet wird nicht wieder heil werden. In vielen Bereichen ist ein point of no return erreicht. Aber wir können einiges reparieren, schädliche Prozesse stoppen. Genügend Gutes ist vorhanden, was es zu schützen lohnt. Ist es nicht besser, einen ramponierten Planeten weiterzugeben an Kinder und Kindeskinder als einen völlig kaputten? Erstmals ist der Gedanke der Umkehr gesellschafts- und mehrheitsfähig geworden. Nun gilt es, Ausstiegsstrategien zu finden für den Einstieg in eine lebbare Zukunft, die sich den Abgründen von Barbarei und Zerstörung entgegenstellt. Widerstand zu leisten gegenüber Dingen,die uns nicht gut tun. Eine Kultur der Achtsamkeit zu entwickeln und Ressourcen zurückzugewinnen, die für ein humanes Leben unverzichtbar sind. Oder ganz einfach den Moloch, der uns bedroht wie das gefräßige Tier in der Apokalypse, durch verändertes Verhalten nicht länger zu füttern – um stattdessen wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, mit Leit-planken, vernünftigen Regeln und verlässlichen Wegweisern.

Wachstum um jeden Preis und die Philosophie des anything goes haben Erde und Mensch erschöpft. Die Frage, ob wir alles, was wir machen könnten, auch wirklich tun dürfen, ist zu einer Frage von Sein oder Nichtsein geworden. Der Franzose Edgar Morin, ein Veteran der Résistance und Weggefährte von Stéphane Hessel, dessen Manifest „Empört euch“ der Protestbewegung vor Jahren das Stichwort gab, hat einen wichtigen Hinweis in die Debatte getragen. Es gäbe heute die Unfähigkeit, sich ein Europa über den rein wirtschaftlichen Standpunkt hinaus vorzustellen. Morin plädiert deshalb für eine Wiederentdeckung des gemeinsamen geistigen und kulturellen Erbes, das seiner Ansicht nach in der mediterranen Kultur begründet liegt. Nicht das Modell des Südens sei heute bankrott, sondern das einseitig auf Verwertung, Optimierung, Pragmatismus und Tempo ausgerichtete Modell des Nordens. Die Stärke des Südens liege darin, so Morin, den Wert des Lebens nicht nur quantitativ zu bemessen, sondern es von seiner Qualität her zu definieren. Es nicht vorwiegend an Effizienz auszurichten, sondern an Dingen wie Empathie, Familiensinn, Zwischenmenschlichkeit, Ästhetik, Gastfreundschaft und Lebensbejahung.

Vordringlich ist heute nicht, die Kultur zu modernisieren, sondern die Moderne zu kultivieren. Eine Rezivilisierung der Gesellschaft wird versuchen, das Gute mitzunehmen, das Schlechte nicht zu wiederholen, vor dem Hässlichen zu schützen und das Schöne zu pflegen. Es ist die Chance der Krise, einmal durchgerüttelt zu werden in der kalten Nacht von Trauer, Einsamkeit und Depression, um die Spuren im Sand wieder zu sehen. Herauszutreten aus dem Gleichtritt einer kreisförmigen Bewegung, die nicht weiterführt. Das Leben als Projekt, das ist neu. Das heißt aber dann auch: das Leben so zu gestalten, dass es gut ist. Gut für sich. Gut für andere. Mit den Veränderungen bei sich selbst zu beginnen wäre wohl die größte Revolution von allen.

München, im September 2015 Peter Seewald

Peter Seewald, Jahrgang 1954, war bis 1994 Redakteur und Autor bei »Spiegel«, »Stern« und dem Magazin der »Süddeutschen Zeitung«. Seine Bücher mit Joseph Kardinal Ratzinger, »Salz der Erde« und »Gott und die Welt«, wurden in 30 Sprachen übersetzt. Mit Benedikt XVI. veröffentlichte er den Weltbestseller »Licht der Welt«, das erste Interviewbuch eines Papstes. Zuletzt erschienen von ihm »Die Schule der Mönche«, »Kult« und »Jesus Christus: Die Biografie«. Peter Seewald ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er lebt in München.

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